Ich sitze auf dem Sofa, vertieft in „Der Herr der Ringe“. Meine Augen rasen über die Zeilen, ich lese immer schneller, als wollte ich die Geschichte in mich aufsaugen. Die Seiten sind gefüllt mit ausführlichen Beschreibungen von Landschaften, Menschen, Ungeheuern und Schlachten. Doch diese fliegen an mir vorbei, ohne innere Bilder zu erzeugen – keine Visionen von imposanten Bergen, geheimnisvollen Wäldern oder tapferen Helden erscheinen vor meinem inneren Auge.
Trotzdem bin ich ganz gefangen von der Handlung, will wissen, wie es weitergeht, Neugier treibt mich an.
Wochen später unterhalte ich mich mit einer Freundin darüber, wie gut die Bücher sind, beklage mich aber über diese endlosen Landschaftsbeschreibungen. Die Frage meiner Freundin, ob ich nicht in inneren Bildern versinke, verstehe ich nicht …🤔
In dem Gespräch komme ich allmählich dahinter, dass wir die gleiche Geschichte auf unterschiedliche Weise wahrnehmen. Während sie während des Lesens in phantasievolle Bilderwelten eintaucht, bleiben für mich die Worte auf der Seite genau das – Worte, die mich trotzdem in ihren Bann ziehen.
Aphantasie und Hypnose
Viele Menschen meinen, sie müssten hypnotische Suggestionen wie auf eine innere Leinwand projiziert sehen, damit sie wirksam werden.
Doch genau wie das spannende Buch mich auch ohne innere Bilder emotional berührt, funktioniert Hypnose bei mir hervorragend. Meine abstrakte Vorstellungskraft reicht aus, innere Prozesse in Gang zu setzen und mit meinem Unbewussten zu arbeiten. Obwohl ich im Gegensatz zur Freundin beim Lesen keine konkreten Bilder vor mir sehe, gelingt es einer guten Geschichte genauso wie einer für mich passenden Hypnose, mich zu faszinieren und mein Erleben zu verändern.
Bei Hypnotisanden, die wie ich selbst zu Aphantasie neigen, hilft es oft schon, einfach eine etwas andere Formulierung zu nutzen. Während das klassische „Stell dir vor“ eher in die Richtung führt, sich etwas bildhaft vorzustellen, kann die Alternativ-Formulierung „Denk an …“ Aphantasten in dieser Hinsicht einfach und schnell vom “Druck”, sich etwas bildlich vorstellen zu “müssen”, entlasten.
Wenn du mehr dazu erfahren möchtest, wie sich Suggestionen optimal für Aphantasie anpassen lassen, empfehle ich dieses Video von James Tripp:
In ihrem Blogbeitrag “7 Hypnose-Tipps für deinen optimalen Trance-Genuss” geht Undine unter Punkt 6 ebenfalls auf das Thema ein.
Trotz dieser Möglichkeiten bin ich ein wenig neidisch auf Menschen, die opulente innere Bilder erleben können, und forsche daher nach: Welche Auswirkungen hat Aphantasie auf mich und andere Betroffene? Lässt sich die Vorstellungskraft verbessern?
Was ist Aphantasie?
Unter Aphantasie versteht man gemeinhin die Unfähigkeit, mentale Bilder bewusst zu visualisieren – eine Besonderheit, von der etwa drei vis vier Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
Stand 2022 existieren mehrere Erklärungsmodelle für die Ursache von Aphantasie:
Eines dieser Modelle geht von einer Kommunikationsstörung zwischen dem Frontallappen (vorderer Teil des Gehirns) zum Okzipitallappen (hinterer Teil des Gehirns) aus. Der Wille, sich etwas bildhaft vorzustellen, entsteht im Frontallappen, das vorgestellte Bild entsteht im Okzipitallappen.
Eine andere Theorie vermutet eine Überaktivierung im Okzipitallappen, die andere Signale überdeckt. Das Signal aus dem Frontallappen ist in diesem Fall nicht ausreichend, um die Grundaktivierung zu übertönen.
Einige Eckpunkte, die ich spannend finde:
Aphantasie kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein, wie das folgende Bild verdeutlicht. (Wo ordnest du dich ein?)
Quelle: Wikimedia
Aphantasie wird oft nur mit dem Fehlen einer bildlichen Vorstellungskraft in Verbindung gebracht, kann aber auch andere Sinnesmodalitäten betreffen, wie die kinästhetische, auditive, olfaktorische und gustatorische Vorstellungskraft (spüren, hören, riechen und schmecken).
Die Vorstellungskraft lässt sich trainieren
Im begrenzten Rahmen lässt sich trotz Aphantasie die Vorstellungskraft trainieren. Dafür habe ich eine kostenlose Reihe aus vier zehnminütigen Übungsfiles aufgenommen und den Newsletter-Abonnenten von Hypnokink.de zur Verfügung gestellt.
Aphantasie ist keine Krankheit: „Einfach, weil wir keinen besonders hohen Leidensdruck bei den Betroffenen feststellen. Und das ist eben definierend für eine psychische Krankheit.“
Insgesamt haben Studien gezeigt, dass das autobiographische Gedächtnis bei Menschen, welche eine eingeschränkte visuelle Vorstellungskraft haben, nicht so gut funktioniert, wie bei Menschen, die sich sehr leicht etwas bildhaft vorstellen können, Eine gute Erklärung dafür, warum ich im Vergleich zu anderen einen Mangel an autobiographischen Erinnerungen bei mir festgestellt habe.
Weitere Studien haben gezeigt, dass Personen mit Aphantasie dennoch in der Lage sind, bildhafte Träume zu erleben. Dies deutet darauf hin, dass die fehlende Vorstellungskraft hauptsächlich den Wachzustand betrifft und nicht die unbewussten Prozesse während des Schlafs.
Eine Untersuchung von Adam Zeman und Kollegen aus dem Jahr 2015 befasste sich mit diesem Phänomen. In dieser Studie berichteten die meisten der 21 Teilnehmer mit Aphantasie, dass sie keine freiwilligen visuellen Vorstellungen haben, jedoch unwillkürliche Visualisierungen in Träumen erleben.
Aphantasie und Legasthenie
Derzeit gibt es keine umfassenden wissenschaftlichen Studien, die einen direkten Zusammenhang zwischen Legasthenie (Lese-Rechtschreib-Störung) und Aphantasie (fehlendes bildliches Vorstellungsvermögen) belegen. Beide Phänomene betreffen unterschiedliche kognitive Bereiche.
Dennoch fehlt bei Legasthenikern oft die bildhafte Vorstellung von Wörtern, die Unfähigkeit zu erkennen, ob ein Wort richtig oder falsch geschrieben wurde.
(Sollte jemand dazu eine Studie finden, würde ich mich über eine Nachricht freuen.)
Aphantasie und Empathie
Eine Studie der Universität Bonn zeigte, dass Personen mit Aphantasie auf vorgestellte emotionale Reize weniger empathisch reagieren als Personen mit normaler visueller Vorstellungskraft. Interessanterweise zeigten sie jedoch in realen Situationen ein vergleichbares Maß an Mitgefühl wie andere.
Die Forschung geht weiter: Diverse Universitäten oder Forschungseinrichtungen suchen Probanden um Aphantasie weiter zu erforschen z.B. hier.